Dem Nadelöhr begegnen — ein Artikel von Otto Scharmer
übersetzt von Isabell Herzog
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Im alten Jerusalem gab es ein Tor, das Nadelöhr genannt wurde und das so eng war, dass, wenn sich ein voll beladenes Kamel dem Tor näherte, alle Bündel entfernt werden mussten, damit das Kamel hindurchgehen konnte. In Anspielung auf dieses bekannte Bild seiner Zeit sagte Jesus: “Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt.”
Das kommt mir in den Sinn, wenn ich die Bilder der Ever Given betrachte, die im Suezkanal feststeckte. Voll beladen mit Containern auf dem Weg von Asien nach Europa und Nordamerika verursachte das Frachtschiff einen Stau von mehr als 400 Schiffen, die auf die Durchfahrt durch den Kanal warteten.
“Warum ziehen sie nicht einen dieser Container heraus?”, fragte ein Bewohner des nahegelegenen Dorfes, der die Ever Given laut New York Times schon seit ein paar Tagen beobachtet hatte. “Vielleicht könnte er unsere Stadt ernähren.”
Ist das nicht unser globales Dilemma auf den Punkt gebracht?
Das Bild der Ever Given — die ihre Ladung abladen muss, um aus dem Feststecken herauszukommen — repräsentiert in einem Mikrokosmos das kollektive Hindernis, das die reichen Länder und die westliche Zivilisation heute verkörpern: das Festhalten an Dingen und die Weigerung, mit denen zu teilen, die auf der anderen Seite der sozialen Kluft stehen.
Es gibt unzählige Beispiele für Länder, die daran scheitern:
- den Zugang zu COVID-Impfstoffen in gerechter Weise mit dem globalen Süden zu teilen (90% der rund 400 Mio. Impfungen gingen bisher an reiche Länder und Länder mit mittlerem Einkommen);
- Finanzierungszusagen zur Unterstützung der Länder des globalen Südens bei der Anpassung an die Klimakrise einzuhalten (die meisten Versprechen wurden bis heute nicht eingehalten);
- die Ursachen für die Massenmigration in den Norden zu bekämpfen.
In allen drei Fällen ist der Grund für die gemeinsame Nutzung von Ressourcen nicht nur ein ethischer Imperativ. Es ist auch ein systemischer Imperativ, wie wir alle im vergangenen Jahr von unserem wichtigsten Lehrer für Systemdenken gelernt haben: der COVID-Pandemie. Die einzige Möglichkeit, sich selbst zu schützen, besteht darin, seinen Nächsten zu schützen. Wenn man alle Impfstoffe für sich behält, dann wird man wahrscheinlich von der nächsten Mutation des sich schnell ausbreitenden Virus getroffen (wie heute die P1-Variante in Brasilien oder etwas noch Schlimmeres morgen), die alle Ihre früheren Impfbemühungen zunichtemachen könnte.
Wenn man alle wirtschaftlichen Ressourcen für sich behält, dann wird man wahrscheinlich von Wellen der Massenmigration aus Ländern getroffen werden, die unter den unerträglichen Folgen von struktureller Gewalt und Klimawandel leiden. Wer glaubt, man könnte den Klimawandel lösen, indem man sich nur auf Technologien konzentriert, die vom Norden finanziert, entwickelt und genutzt werden, hat noch nie ein Klimasimulationsmodell für den Rest dieses Jahrhunderts gesehen, das Sie schnell vom Gegenteil überzeugen würde.
Unser gesellschaftliches Betriebssystem auf den neusten Stand bringen
Die einzige Art, diese Herausforderungen zu bewältigen, besteht darin, die Betriebssysteme unserer Volkswirtschaften zu überdenken und sie sich neu auszumalen, indem wir von einer Ego-System- zu einer Eco-System-Logik übergehen — das heißt, von einer Wirtschaft, die um sich selbst (oder ein Land) herum organisiert ist, zu einer, die um das Wohlergehen aller herum organisiert ist.
Denken wir zum Beispiel mal an die Regelungen zu den Rechten des geistigen Eigentums, die dazu führen, dass die meisten Länder und die meisten Menschen keinen Zugang zu Impfstoffen haben (obwohl sie diesen haben könnten, wenn die geistigen Eigentumsrechte so gestaltet wären, dass sie für einen maximalen gesellschaftlichen Nutzen optimiert würden). Die meisten Menschen haben auch keinen Zugang zu den Schlüsseltechnologien für die Dekarbonisierung unserer (Volks)wirtschaften oder zu den Ressourcen eines möglichen globalen Green New Deal. Wären diese Ressourcen weithin verfügbar, könnten die Länder ihre Lern- und Green-Tech-Infrastrukturen ausbauen und die Prinzipien der Klimagerechtigkeit auf der Ebene des Ganzen anwenden.
Bis an die Zähne bewaffnet — und doch hilflos
Während das Bild des gestrandeten Ever Given als äußere Verkörperung eines inneren Zustands in den meisten reichen Ländern heute gesehen werden kann, spiegelt ein anderes Bild, das mir im Gedächtnis haften bleibt, ein anderes tief sitzendes Problem wider, das in letzter Zeit an die Spitze unserer Nachrichtenzyklen aufgestiegen ist.
Ich rede von dem Anschlag auf das US-Kapitol am 6. Januar. Wenn wir dieses Ereignis dekomprimieren, was sehen wir dann?
Am 6. Januar erwies sich die mächtigste militärische Supermacht der Welt — mit einem Verteidigungshaushalt, der größer ist als der der nächsten zehn Länder zusammen — als völlig hilflos gegenüber ein paar hundert Aufständischen, die aus ihrem blinden Fleck auftauchten: Ein auf weißer Vorherrschaft basierender Inlandsterrorismus, angefacht vom damaligen Bewohner des Weißen Hauses.
Ja, man kann 800 Militärbasen in anderen Ländern betreiben. Ja, man kann die mächtigste Militärmaschinerie der Welt haben. Aber wenn all Ihre Aufmerksamkeit in die falsche Richtung gelenkt wird — auf Gefahren, die ihren Ursprung außerhalb unserer eigenen Grenzen haben — dann wird Ihnen all diese Macht nichts nützen.
Das Ever Given-Dilemma und der Angriff auf das Kapitol veranschaulichen zwei entscheidende Syndrome unseres aktuellen kollektiven Zustands.
Erstens: Wir zerreißen unser eigenes System, indem wir an den Mustern der Vergangenheit festhalten, indem wir uns weigern, Besitztümer loszulassen, die uns effektiv daran hindern, uns vorwärts zu bewegen.
Zweitens: Wir deaktivieren unsere Lern- und Reaktionsfähigkeit, indem wir aus einem Mindset heraus operieren, das die Quelle unserer Probleme nur außerhalb von uns selbst und unseren eigenen Systemen lokalisieren kann und das uns für all die Probleme blind macht, die aus dem Innen unserer eigenen blinden Flecken entstehen.
Der Eintritt in das Anthropozän
Wir wissen, dass wir in Zeiten eines planetarischen Notstands leben, der in zahlreichen Studien und Berichten beschrieben wurde — zuletzt im 2020 Human Development Report. Die Destabilisierung des Klimas, ein erschütterndes Ausmaß an Polarisierung und Ungleichheit, die rasante Ausbreitung von Problemen der psychischen Gesundheit in den Kommunen. Der Bericht verweist auf eine aktuelle Diskussion unter Wissenschaftlern darüber, ob die Erde in eine neue geologische Epoche eingetreten ist, die Anthropozän genannt wird, das Zeitalter des Menschen. Das definierende Merkmal dieser Epoche ist, dass die Grundursache all dieser Probleme und die primäre Bedrohung für das Überleben unserer Spezies wir selbst sind, unser eigenes Verhalten.
Wie können wir lernen, in den kollektiven Spiegel zu schauen, indem wir Systemdenken anwenden? Wie lernen wir zu sehen, wie unser eigenes Verhalten das Ganze beeinflusst? Wie können wir das dominante Mindset in unseren Systemen von einem Ego-System- zu einem Eco- System-Bewusstsein verändern?
Als Aktionsforscher am MIT habe ich die letzten 25 Jahre damit verbracht, diese Fragen durch praktische Experimente zu untersuchen. Was ich gelernt habe, ist, dass man, um Systeme zu verändern, das Bewusstsein der Menschen in diesen Systemen verändern muss. Und um das zu tun, muss man die Systeme dazu bringen, sich selbst zu spüren und zu sehen.
Führen durch Loslassen…
Der Aufbau dieser Art von tiefen Lerninfrastrukturen ist eine entscheidende Voraussetzung, um im Zeitalter des Anthropozäns einen transformativen Wandel herbeizuführen. Wenn wir nicht umfassend in das Wohlergehen aller investieren, wenn wir nicht unsere blinden Flecken beleuchten und einige unserer alten Schatten transformieren — einschließlich derer der weißen Vorherrschaft -, werden wir immer wieder in diesen Nadelöhr-Situationen stecken bleiben, die immer wieder auf uns zukommen. In der Sprache des Geldes: Wir müssen unsere finanziellen Ressourcen von einem Ort, an dem wir zu viel haben (spekulativer Kasinokapitalismus), zu einem anderen Ort umverteilen, an dem wir zu wenig haben (unsere ökologischen, sozialen und kulturellen Gemeingüter).
So wie die Reisenden nach Jerusalem lernten, ihr Kamel abzuladen, um durch das Tor zu gehen, müssen wir als Bürger*innen, Change-Maker und Führungskräfte im Anthropozän lernen, wie wir transformatorischen Wandel durch Loslassen und Kommenlassen auf allen Maßstabsebenen ermöglichen können: persönlich, in unseren Organisationen und auch auf der Ebene unserer gesamten Gesellschaft. Führen durch Loslassen? Loslassen von was? Das Loslassen von Verhaltensweisen aus der Vergangenheit, die ihre Nützlichkeit überlebt haben.
Wenn wir unsere Reise in das Zeitalter des Anthropozäns fortsetzen, werden wir weiterhin auf allen Ebenen mit Nadelöhrsituationen konfrontiert werden. Wir wissen, dass es nicht einfach sein wird, diese Schwellen zu überschreiten. Aber wir wissen auch, dass wir es schaffen können, weil der Ort des Loslassens in Wahrheit der Ort der Möglichkeit ist: der Ort des Kommenlassens.
Wie der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin es so schön ausdrückte:
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Dieses ‚Rettende‘ ist kein ferner Traum. Es ist eine sehr reale Möglichkeit der Zukunft, die viele Menschen auf dem ganzen Planeten in diesem Moment spüren und fühlen können. Es ist eine Möglichkeit, die von uns abhängt, manifestiert zu werden. Schenken wir dem unsere Aufmerksamkeit?
Wenn Sie diese Arten des Handelns und des Neu-Ausmalens unseres Wegs vorwärts erkunden möchten, denken Sie bitte darüber nach, uns in unseren anstehenden GAIA Meetings anzuschließen.
Ich möchte mich herzlich bedanken bei Kelvy Bird für das Erschaffen des Bildes und bei Rachel Hentsch, Antoinette Klatzky und Eva Pomeroy für die Kommentare zum Entwurf.